Kurd-Laßwitz-Preis 2024


Die nominierten Kurzgeschichten

Ein Überblick


 

Im Folgenden gibt es zunächst einen kleinen Leseeindruck zu jeder der nominierten Erzählungen und abschließend (siehe unten) ein allgemeines Fazit. Los geht's:

 

 

 

 

Christian Endres: Die Straße der Bienen

(aus: Klimazukünfte 2050)

 

Inhalt:

Ein gut gesicherter Konvoi soll eine Ladung Bienen durch die vom Klimawandel ruinierte Welt zu ihrem Bestimmungsort bringen. Denn Bienen sind ebenso selten wie überlebenswichtig geworden, da sie durch ihre Pflanzenbestäubung noch Lebensmittelanbau ermöglichen. Doch der schwer bewaffnete Transport hat mit allerlei Hindernissen zu kämpfen: Hitze, Umweltkatastrophen, technischen Pannen oder mit Banden, die entweder bettelnd oder mit Gewalt an die wertvolle Fracht heranzukommen versuchen.

 

Meinung:

Die von der Klimakatastrophe heimgesuchte Welt wird knapp, aber eindrücklich beschrieben. Am Schluss stehen die Protagonisten vor einer Entscheidung, doch wie sie ausfällt, bleibt offen. Das kann man gut als Metapher für die Ausweglosigkeit deuten, in der die Menschen in dieser Zukunft stecken. Somit ein ziemlich guter Schluss.

 

Fazit:

Nicht bahnbrechend originell oder raffiniert, aber cool und actionreich geschrieben.

 

 


 

 

 

Uwe Hermann: Die End-of-Life-Schaltung

(aus: Exodus #46)

 

Inhalt:

Ein allein lebender 105-jähriger hat mit Einsamkeit und zunehmenden körperlichen wie geistigen Beschwerden zu kämpfen. Als er von seinem Sohn einen Roboter geschenkt bekommt, der ihm Gesellschaft leisten, den Alltag erleichtern und im Haushalt helfen soll, sträubt er sich zunächst gegen solch einen "Blechkasten". Doch nach anfänglichem Widerstand lernt er nach und nach die Vorteile zu schätzen.

 

Meinung:

Insgesamt eine eher altmodisch anmutende Geschichte, die so auch schon vor Jahrzehnten hätte geschrieben worden sein können (was ja nicht automatisch etwas Schlechtes sein muss). Hervorragend beschrieben ist dabei die menschliche Komponente: Der sture Alte, der sich nicht helfen lassen will; seine Sicht der Dinge, seine Angst vor vermeintlicher Entmündigung und dann sein allmähliches Akzeptieren ... das ist wunderschön eingefangen (und so treffend).

 

Fazit:

Souverän geschriebene Story mit gelungener Charakterzeichnung und schönem Ende.

 


 

 

 

Dieter Korger: Nur ein Werbespot

(aus: Ferne Horizonte)

 

Inhalt:

Eine Gruppe von Menschen (in erster Linie Journalisten und Sponsoren) reist per Raumschiff-Zeitmaschine Milliarden Jahre in die Zukunft, um dem endgültigen Verglühen der Erde beizuwohnen und dieses Spektakel live in die Wohnzimmer der Gegenwart zu übertragen. Ein nie dagewesenes Medienereignis, das einerseits natürlich von hohem wissenschaftlichen Interesse ist, dessen Abläufe aber letztlich von den Geldgebern bestimmt werden. Mit fatalen Folgen.

 

Meinung:

Die wissenschaftliche Frage "Kann der Moment, in dem die Erde von der Supernova-Sonne verschlungen wird, tatsächlich minutiös genau vorausgesagt werden?" einfach mal außer Acht gelassen, geht es in dieser Geschichte vor allem um Medienkritik und um die Macht der Großkonzerne bzw. des Geldes. Das mag thematisch zwar nicht gerade neu und originell sein, aber nun ja ... speziell in den letzten Jahren mit Gestalten wie Elon M. (der ziemlich eindeutig hier für eine der Figuren Pate gestanden hat), die sich in ihrer Überheblichkeit für unangreifbar und unfehlbar halten, wohl eben doch so aktuell wie nie. Und die Art und Weise, auf die sich Profitgier und Größenwahn hier rächen, ist ... puh ... Respekt!

 

Fazit:

Gut aufgebaute Geschichte mit satter Pointe.

 


 

 

 

Michael Marrak: Der Mann, der Räume glücklich machte

(aus: Cyberflora. Perry Rhodan #3234)

 

Inhalt:

Amüsante Geschichte um einen Raumschiff-Kammerjäger, der an Bord einen unbekannten Schädling ausfindig machen soll und dabei auf unerwartete Konkurrenz trifft.

 

Meinung:

In locker-humorvollem Stil erzählt, aber auch mit etwas viel Technobabbel, wenngleich das alles letztlich trotzdem gut verständlich bleibt (auch ohne Perry Rhodan-Insiderwissen). Eine schräge Grundidee, und die Schlusspointe kommt dann tatsächlich recht unerwartet.

 

Fazit:

Originelle Ausgangssituation, cool geschrieben, sehr unterhaltsam.

 


 

 

 

Aiki Mira: Nicht von dieser Welt

(aus: Nova #32)

 

Inhalt:

Vater und Sohn leben in einem abgeschiedenen Haus an der Nordseeküste. Die Mutter ist abwesend und quasi als "Ersatz" wurde dem Jungen ein künstliches Wesen an die Seite gestellt: eine Art Bio-Android. Zusätzlich zu dieser eher deprimierenden Situation sind sie jetzt aufgrund äußerer Umstände auch noch auf unbestimmte Zeit von der Außenwelt abgeschnitten. Psychische Belastungen und Herausforderungen lauern also gleich aus mehreren Richtungen. 

 

Meinung:

Die Erzählung wartet zwar nicht mit einem Knalleffekt zum Schluss auf, bietet aber immer wieder überraschende Entwicklungen und neue Aspekte (das künstliche Wesen und was es damit auf sich hat, die abwesende Mutter, Abgeschiedenheit und Versorgungsengpass, die Ambitionen des Sohnes, ein Flug zum Mars, Krieg auf der Erde). Das Ganze wird langsam erzählt, in leicht poetischer Sprache, und zielt v.a. auf Stimmung und Atmosphäre. Trotz - oder wegen - der (siehe oben) komplexen Welt, die hier angedeutet wird, bleibt einiges offen.

 

Fazit:

Viele interessante Facetten, sehr schön erzählt.

 


 

 

 

Michael Schneiberg: Die Frau in der Wand

(aus: Exodus #47)

 

Inhalt:

In einer dystopischen Zukunft wimmelt es überall von außer Kontrolle geratenen Nanobots, die als audio- und visuelle Effekte die ganze Welt zumüllen. Sämtliche KIs wurden deshalb mittlerweile abgeschaltet und verboten. Der Protagonist erhält plötzlich "Besuch" von einer fremden Stimme und ist schließlich fasziniert von der geheimnisvollen Frau, die sich irgendwie in seine Wohnung gehackt hat. Es könnte sich um eine übriggebliebene (und somit illegale) KI handeln, sie selbst gibt sich aber als Insassin einer Klinik aus. Der Erzähler macht sich nun daran, Näheres über sie herauszufinden.

 

Meinung:

Die hier erschaffene Welt ist düster, aber originell. Zudem wird sie gut eingeführt und ist erstaunlich komplex für einen so kurzen Text. Das Ende lässt Interpretationsspielraum zu, ist aber durchaus gelungen.

 

Fazit:

Tiefgründige Geschichte mit krassem Weltenbau.

 


 

 

 

Yvonne Tunnat: Der Spielplatz

(aus: Jenseits der Traumgrenze)

 

Inhalt:

Eine Frau sitzt im Gefängnis. Sie bestreitet zwar, das ihr zur Last gelegte Verbrechen begangen zu haben, fühlt sich aber dennoch schuldig - und nach und nach erfahren wir, warum. Mittels eines Neuroimplantats kann sie sich gedanklich an bestimmte Orte oder Szenen versetzen (oder erinnern?); in ihrem Fall dreht es sich dabei stets um einen Spielplatzbesuch mit ihrem Sohn. So ganz nebenbei werden immer wieder auch Schlaglichter auf die Welt "draußen" geworfen.

 

Meinung:

In dieser Story stehen in erster Linie das Innenleben der Erzählerin, ihr traumatisches Erlebnis sowie ihr Ringen mit sich selbst im Mittelpunkt. Dass das Ganze in einer zukünftigen Welt spielt, ist dabei ein zusätzlicher Aspekt, der die Sache komplexer und spannender macht. Es läuft nicht auf eine spektakuläre Wendung hinaus, sondern endet eher ruhig und durchaus versöhnlich.

 

Fazit:

Eine schöne, emotionale Geschichte. Doch welche Rolle spielt der SF-Aspekt hier eigentlich? Das hängt wohl ganz von der eigenen Interpretation ab.

 


 

 

 

Yvonne Tunnat: Trauergeschäfte

(aus: Exodus #47)

 

Inhalt:

Ein Unternehmen bietet an, Verstorbene "für eine Übergangszeit" durch 1:1-Androidenkopien zu ersetzen, um so für die Hinterbliebenen den Verlust zu lindern bzw. den "Übergang" zu erleichtern. In der Praxis sieht das dann häufig so aus, dass bereits unmittelbar nach der Todesnachricht eine Beratungsperson zur Stelle ist und den Angehörigen direkt in dieser emotionalen Ausnahmesituation ein entsprechendes Produkt anbietet. Klingt heftig? Ist es auch.

 

Meinung:

Die Geschichte wird als Kammerspiel erzählt, wobei sich Dialoge mit den Gedanken oder Erläuterungen der Ich-Erzählerin abwechseln. Bei dieser handelt es sich übrigens um eine Angestellte der fraglichen Firma, wodurch eine recht unterkühlte Stimmung und Distanz aufgebaut wird. Gut gemacht.

Die Story endet mit einer kleinen Pointe, die zwar überraschend kommt, allerdings auch nichts Neues hinzufügt. Denkt man zunächst. Bis man dann anfängt, die Erzählerin unter diesem Aspekt nochmal neu zu betrachten.

 

Fazit:

Schwer verdauliche Prämisse und gut konstruierte Erzählung.

 


 

 

 

Melanie Vogltanz: No Filter

(aus: Queer*Welten #10)

 

Inhalt:

In der hier beschriebenen Zukunft sind Filme und Bücher streng indiziert ("weil man manche Dinge lieber nicht sehen sollte"). Die naheliegende Folge: Es gibt einen illegalen Markt für den Handel oder Verleih mit dieser "heißen Ware". Kurzum: es geht um Upload-Filter und Content Notes, um Zensur und Selbstbestimmung.

Das zweite Thema lautet: Trauerbewältigung. Es wird deutlich gemacht, wie die Gesellschaft vom Einzelnen einen ganz bestimmten, möglichst souveränen Umgang mit persönlichen Problemen, Ängsten oder Verlusten erwartet.

Das alles ist verpackt in eine souverän erzählte Geschichte, die nach und nach offenbart, worauf sie hinauswill.

 

Meinung:

Man muss kein Meister der Interpretationskunst sein, um beim Lesen dieser Erzählung einen Zusammenhang zwischen den beiden Themen zu erkennen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Und dann beginnt man sich Gedanken zu machen ... und sich zu fragen, wo wir hinsichtlich dieser Thematik eigentlich heute schon stehen.

Genau das ist es ja eigentlich, was gute Science-Fiction leisten kann.

 

Fazit:

Erst zum Schluss zeigt sich, worum es in der Geschichte (bzw. der Autorin) geht. Eine Story mit einer Message.

 

 


 

 

 

Wolf Welling: Stulpa

(aus: Exodus #47)

 

Inhalt:

Dr. Frank N. Stein möchte ein neues Wesen erschaffen. Aber nicht - wie sein berühmter Namensvetter - einen Körper mit Geist "beseelen", sondern genau umgekehrt: Erst den Geist aus sich selbst heraus erschaffen und diesem dann am Ende einen Körper verpassen. Stichworte: Bewusstseinstransfer, selbstlernende KI, Hologramme.

 

Meinung:

Die Geschichte wird mittels Dialogen erzählt, plus einzelner Regieanweisungen. Also fast schon wie ein Drehbuch oder Theaterstück. Das Trope "Mad Scientist" ist nicht gerade neu und Humor ist ohnehin immer schwierig (bzw. Geschmacksache). Hier funktioniert er so gerade eben noch, auch wenn die trottelige Überheblichkeit des Doktors etwas übertrieben ist. Aber insgesamt stecken durchaus einige interessante Gedanken dahinter und eine unerwartete Wendung gibt es obendrein.

 

Fazit:

Amüsante Geschichte mit interessanter Prämisse und überraschendem Schluss.

 

 


 

 

 

Charline Winter: Grüne Herzen

(aus: Queer*Welten #11)

 

Inhalt:

Ein biometrischer (=menschlich aussehender und mit allen menschlichen Emotionen ausgestatteter) Android begibt sich in eine "Werkstatt", weil er der Meinung ist, ihm fehle etwas: Er kann keine Liebe empfinden. Daraus entwickelt sich ein faszinierendes Gespräch um Normen, Empfindungen und Realitäten.

 

Meinung:

Zunächst muss die Location erwähnt werden, in der das Ganze spielt: ein altes, verfallenes Schwimmbad inmitten einer offenbar ziemlich zerstörten Welt. Dieser Ort ist einfach wunderschön anschaulich beschrieben und sorgt so für eine passende Atmosphäre. Die Geschichte selbst lebt natürlich von ihren Dialogen, und auch die sind einfach sehr gekonnt geschrieben. So kann sich das Thema bzw. die Idee in aller Ruhe entwickeln und die gewünschte Wirkung erzielen.

 

Fazit:

Klasse Atmosphäre, starke Dialoge, schöne Aussage.

 

 


 

Allgemeines Fazit

 

Vorab: Die deutschsprachige Kurzgeschichtenlandschaft ist erstaunlich weit und umfangreich. Mit anderen Worten: in jedem Jahr erscheinen Dutzende von Anthologien, Magazinen und Kurzgeschichtensammlungen mit insgesamt mehreren hundert Storys. Das kann man positiv sehen und sich über eine große Vielfalt und über die zahlreichen Veröffentlichungsmöglichkeiten für Autorinnen und Autoren freuen. Aber wer sich tatsächlich ganz gezielt einen Großteil all dieser angebotenen Publikationen zu Gemüte führt, gelangt relativ schnell zu der Erkenntnis, dass weniger hier wohl doch mehr wäre. Soll heißen: in einer Zeit, da es dank vielfältiger Möglichkeiten gar nicht mehr so kompliziert ist, Kurzgeschichten unters Volk zu bringen, wird eben auch etliches veröffentlicht, was noch unausgegoren oder - sagen wir mal - nicht besonders professionell ist. Eine gute Idee macht noch keine gut konstruierte Geschichte. Eine ausgefeilte Handlung kann nicht über sprachliche Unzulänglichkeiten hinwegtäuschen. Ein raffinierter Spannungsbogen wird durch viele Rechtschreib- oder Grammatikfehler garantiert ruiniert.

Professionelles Lektorat und Korrektorat kosten natürlich Geld ... tun der Qualität aber definitiv und ausnahmslos immer gut.

 

So. Nach diesem allgemeinen Genörgel kommt nun der positive Teil.

Wenn man sich auf die für einen Preis wie den KLP nominierten Texte konzentriert, dann profitiert man natürlich davon, dass hier schon eine gewisse Vorauswahl getroffen wurde. Alle diese Kurzgeschichten wurden von mehreren (man darf annehmen: SF-erfahrenen) Menschen bereits für gut befunden. Da ist das Risiko, auf inhaltlichen Unsinn oder sprachliche Totalausfälle zu stoßen, doch eher gering. Die Geschmäcker sind selbstverständlich verschieden und es kann durchaus vorkommen, dass man sich fragt, wie Text XY es denn bitteschön auf die Nominierungsliste geschafft hat. Aber das ist ja ganz normal.

 

Doch das ganz persönliche Fazit in diesem konkreten Fall lautet, dass sämtliche elf Geschichten etwas Besonderes zu bieten hatten. Eine originelle Idee, eine tolle Atmosphäre, sprachliche Finesse, einen raffinierten Aufbau, einen genialen Schluss ... und bestenfalls sogar mehreres davon. Einige gefielen besser, andere nicht ganz so sehr, aber alle haben Spaß gemacht.

Die Tatsache, dass die 11 Beiträge aus 9 unterschiedlichen Veröffentlichungen von 6 (-einhalb) verschiedenen Herausgeberteams stammen, beweist außerdem, dass es nicht nur einen oder zwei Verlage gibt, deren Kurzgeschichtensammlungen zuverlässig gute Qualität bieten. Sondern - und da schließt sich der Kreis - dass man hier mit Fug und Recht von positiver Vielfalt sprechen kann.

 

Und die Moral von der Geschicht': das Projekt "alle nominierten Kurzgeschichten lesen" hat sich in diesem Jahr auf jeden Fall gelohnt.